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„Mein dunkles Teenagerherz

hat ein Ventil gebraucht.
Und in der Lyrik gefunden.
Die Muse kommt in
dieser Geschichte nicht vor.“

 

 

Sirka,
LEIBHAFTIG

interview,
uwe buschmann

DAS LEBEN IST HEITER, UND ES IST SCHRECKLICH. SCHÖNE MOMENTE ZEIGEN SICH POETISCH UND FLÜCHTIG; HINTER DER ECKE LAUERT DER BÖSE SPUK. SIRKA, 23, GEBOREN IN OBERHAUSEN. PREISTRÄGERIN: TREFFEN JUNGER AUTOR*INNEN UND POSTPOETRY.NRW. NICHT ZUFÄLLIG SCHREIBT SIE GEDICHTE, REDET ÜBER PSYCHISCHE GESUNDHEIT UND STUDIERT SPRACHKUNST AN DER UNIVERSITÄT FÜR ANGEWANDTE KUNST WIEN. VON ZEIT CAMPUS WURDE SIRKA GERADE IN DIE JAHRESLISTE DER „30 UNTER 30“ 2018 BERUFEN. FRAGENPLUSANTWORTEN.

1  Servus, Sirka, wir müssen über das Leben sprechen. Ist es milde mit Ihnen oder hart?

  Meine Mutter sagt immer: „Das Leben ist eins der härtesten.“ Ich stimme ihr zu.

2  Haben Sie heute schon gebetet?

  Ich bete nicht.

3  Atheistin?

  Ich glaube ans Universum.

4  Sie sind gerade gestürzt, mit dem Hinterkopf aufgeschlagen und der Geruchssinn ist weg. Die Ärzte können nicht garantieren, dass er zurückkommt. Meist geht mit Verlust des Geruchs- auch noch eine Beeinträchtigung des Geschmackssinnes einher. Ist es da nicht doch mal angebracht, dass Sie ein Stoßgebet gen Himmel schicken?

  Wohl eher an meinen Körper. Im besten Fall regeneriert der sich nämlich wieder und der Geruchssinn kommt zurück.

5  Wechselbäder. Arbeiten und Beten führen in der westlichen Welt ein unstetes Leben zwischen guten und schlechten Zeiten. Kommt es aber ganz furchtbar, flehen auch Ungläubigste oft um himmlischen Beistand. Man könnte sagen: Es zeigen sich wahre Atheist*innen erst in der größten Not. Alles scheinheilig?

  Ich würde sagen: Lasst beten, wer immer beten will. Und wann er*sie es für richtig hält. Vielleicht bin ich ja auch auf dem Holzweg und sollte endlich anfangen, Stoßgebete gen Himmel zu schicken. Möglicherweise kann ich da in letzter Minute noch was drehen.

6  Stunde Null. Hat Sirka sich verändert in dem Augenblick, als sie erkannte, dass Anorexie ein sehr expliziter Teil ihres Lebens sein würde?

  Ich glaube nicht, dass die Anorexie für immer ein sehr expliziter Teil meines Lebens sein wird. Sie ist es schon heute nicht mehr. Es gab eine Zeit, da war das der Fall, aber die ist jetzt vorbei. Das, was ich jetzt im Netz mache, ist vor allem Aufklärungsarbeit leisten. Aber natürlich hat mich die Krankheit verändert, insofern, dass ich mir meines Körpers bewusster geworden bin.

7  Was haben Sie gegessen, als Sie an Anorexie erkrankt waren?

  Zu wenig.

 

8  Kam es bei Ihnen zur künstlichen Ernährung?

  Wissen Sie, es ist so: Essstörungen, besonders Magersucht, sind sehr konkurrenzfähig. Die meisten Essgestörten liefern sich einen unerbittlichen Kampf darum, wer der*die Dünnste, Kränkste, dem Tod am nächsten ist. Das niedrigste Gewicht, die eindrücklichste Maßnahme, bleibt im ärgsten Fall immer ein Punkt heimlichen Stolzes. Gerade setze ich mich damit auseinander, wie wir als Betroffene über Magersucht sprechen können, ohne diesen Kampf weiter zu befeuern. Dazu gehört auch, dass ich solche Fragen nicht mehr beantworte.

9  Anorexie und Magersucht sind nicht dasselbe, oder?

  Der Fachbegriff für Magersucht ist Anorexia nervosa, eine psychisch bedingte Sonderform der Anorexie. Umgangssprachlich wird Anorexia nervosa oft verkürzt als Anorexie bezeichnet, das ist medizinisch jedoch nicht ganz korrekt.

10  Essen. Trinken. Denken. Wie sieht so ein Kliniktherapie-Tag genau aus, wenn man ein Stück „Besserung“ erarbeitet?

   Wie das Wort „Kliniktherapie-Tag“ schon beinhaltet, macht man neben essen, trinken und denken, vor allem Therapie. Tanztherapie zum Beispiel. Das ist absurd, weil man auf Stoppersocken tanzt und es mittags noch taghell ist. Die Klinik ist ohnehin ein ganz absurder Ort. Die Menschen kommen mit all ihren Problemen, mit all der Trauer und Wut, mit Biographien, die man sich nicht ausdenken möchte, und dann ist es manchmal doch wie auf Klassenfahrt. Diese Stimmung habe ich versucht in meinem #hospitaldiary einzufangen. Ich wollte zeigen, dass eine Klinik per se kein trauriger Ort sein muss. Es ist ein Ort, an dem Gefühle jeder Art geballt aufeinander treffen. Damit muss man sich zwangsläufig auseinandersetzen. Und das verändert einen. Ich bin gelassener geworden, nicht mehr so schnell aus der Ruhe zu bringen. Aber ich lache auch nicht mehr über jeden Witz. Obwohl — das hab ich schon vorher nicht getan.

11  Feinmechanik der Seele. Woher kam Ihre „Lust“ an Selbstzerstörung? Wissen Sie das heute?

  Ich würde es nicht als eine „Lust“ bezeichnen, eher als etwas Dringliches, beinah Zwanghaftes. Ganz platt gesagt, konnte ich mich selbst nicht ausreichend annehmen. Aber eine Essstörung ist viel komplexer, als der reine Zwang zur Selbstzerstörung.

12  Sie müssen sich aber heute mehr mit Ihrem Körper beschäftigen als je zuvor?

  Ich bin mir meines Körpers heute bewusster, als je zuvor. Und ich höre auf ihn. Was er braucht, was er kann, wo er an seine Grenzen kommt. Das ist mir nach meinem Sturz noch einmal deutlicher geworden: Dass auch ich nicht unkaputtbar bin, dass mein Körper morgen vielleicht schon viel weniger kann, als es heute noch der Fall ist.

13  Sie sind sparsamer mit Ihrer Zeit geworden?

  Anfang dieses Jahres hatte ich das Gefühl mein Leben könnte jederzeit vorbei sein. Ich war mir meiner Vergänglichkeit plötzlich sehr bewusst. Eine Phase, die wahrscheinlich jeden irgendwann ereilt. Ein Freund von mir hatte das auch und hat sich daraufhin sogar eine schusssichere Weste gekauft.
Seitdem versuche ich keinen Gedanken ungesagt zu lassen, arbeite intensiver an meinen Projekten und nehme meine Zeit bewusster wahr. Andererseits bin ich auch erst 23.

14  Disneyland ist abgebrannt. So etwas wünschen sich keine Eltern. Die meisten kriegen es nicht hin. Man bräuchte neue Kindermärchen, in denen man nicht vor bösen Wölfen oder Hexen warnt, sondern den inneren Monstern, die am Ende der Kindheit warten. Wird unterschätzt, wie „zerbrechlich“ junge Menschen eigentlich noch sind?

  Ich glaube, dass es unterschätzt wird, wie wichtig es ist zu lernen, über seine Gefühle zu sprechen und mit ihnen in Kontakt zu sein. Das war ja über viele Generationen hinweg, bis zu meiner Elterngeneration, überhaupt kein Thema. So langsam ändert sich das.

15  Im Netz. Katzenvideos ziehen immer. Egal auf wessen Facebook-Seite. Bei Instagram nennen sich alle, wie sie Lust haben. Sie haben dort @fredminuserika und #anorexiefickdichinsknie ins Leben gerufen. Lyrikerin schreibt über Mental Heath. Wie viel Mut hat der Schritt an die Öffentlichkeit erfordert?

  Ich brauchte einen Raum, in dem ich meine Gefühle teilen konnte. Da kam mir Instagram sehr gelegen. Rückblickend denke ich aber schon manchmal: Mensch, war ich mutig!

 

16  Augen auf und durch. Es gibt jetzt auch Ihren Blog vomtrotzdemleben.wordpress.com. Wie ist die Strategie, wenn es um das Posten von Fotos geht? Oft zeigt man drastische Motive, die das suizidale Hungern abbilden. Zur Abschreckung, wie man es beispielsweise auch bei Rauchern mit den Warnbildern auf der Zigarettenpackung ausprobiert hat. Nährt aber nicht ausgerechnet dieser Versuch den Ehrgeiz derer, die dann in Konkurrenz und Wettkampf treten? Was Sie vorhin auch schon erwähnten.

Genau. Ich wähle bewusst neutrale Bilder aus, die die Leser nicht triggern und keinen weiteren Konkurrenzkampf anfechten. Auch weil ich möchte, dass sich jede*r Betroffene angesprochen fühlen kann. Eine dicke*fette Frau kann ebenso an Magersucht erkrankt sein, wie ein Mann. Ich bin müde von Artikeln, die mit jungen, weißen, knochigen Frauen bebildert werden.

17  Vor dem Trend, ist nach dem Trend. In der Stunde von Rap und Slam-Poetry, wieso sind klassische Gedichte da noch wichtig?

  Weil Rap und Slam-Poetry klassische Gedichte nicht ersetzen können.

18  Hat Sie im Frühtau beim Morgenspaziergang die Muse geküsst und fortan verschrieben Sie sich der Lyrik oder wie kommt man dazu?

  Mein dunkles Teenagerherz hat ein Ventil gebraucht. Und in der Lyrik gefunden. Die Muse kommt in dieser Geschichte nicht vor.

19  Ihre Texte sind beeindruckend und prämiert. Wie viel ist Arbeit und wie viel ist Ihnen einfach gegeben?

  Je älter ich werde, desto mehr Arbeit ist es. An manchen Tagen kriege ich Kopfschmerzen davon.

20  Simply perfect. Empfinden Sie Strophen und Verse schon und müssen Sie sie „nur“ niederschreiben?

  Ich bin immer auf der Suche, zumeist unbewusst. Eine Zeit lang bin ich ständig denselben Weg spazieren gegangen. An einer bestimmten Stelle hatte ich aus dem Augenwinkel stets das Gefühl, dass jemand im Gebüsch steht, aber es war jedesmal nur ein Baum. Da ist mir folgender Vers in den Sinn gekommen: „Immer denke ich da steht jemand / aber nie steht da jemand.“

21  Muss man besonders glücklich oder unglücklich sein, um ein gutes Liebesgedicht schreiben zu können?

  Ich habe zu wenig Liebesgedichte im Repertoire, als dass ich diese Frage hinreichend beantworten könnte. Aber generell halte ich es wie die Musikerin Chelsea Wolfe: „I don’t believe that you have to live a dark or unhappy life in order to create art that embodies darkness. I try to live a simple, positive life, but I take the world at large as well as the world around me as inspiration and there are plenty of dark thoughts that come from reality. I also recognize the contrasts though, and I see the beautiful and the horrific juxtaposed everywhere.“ Eine Einstellung, die ich mir erst erarbeiten musste.

22  Die Zeit ist ein Düsenflugzeug. Es sei denn, etwas schmerzt oder man wartet. Dichterfürsten revisited. Launige These. Der eine endete als legasthenische Paukerkomödie („Fack ju Göhte“), der andere geräuchert im Fischladen (Schillerlocke). Launige Frage. Wenn Goethe Paul McCartney und Schiller John Lennon war, war wer dann Mick Jagger?

  Ein exzessiv lebender Lyriker? Charles Bukowski vielleicht. Den habe ich als Jugendliche ein bisschen bewundert, weil er, seinen Geschichten nach zu urteilen, so draufgängerisch gelebt hat. Unpolitisch, vulgär, provokant. Es ging um Sex, Drogen und die große Einsamkeit. Mittlerweile sehe ich das wesentlich kritischer. Heutzutage würde Bukowski wohl in die Sparte „alter, weißer Mann“ fallen. Zu Recht! Und von seiner Sicht auf Frauen will ich gar nicht erst anfangen.

 

23  Wer war die erste verbriefte Dichterin?

  Ich hab im Großen Conrady nachgeschlagen. Sibylla Schwarz ist nach etwa einem Dutzend Männern und „Unbekannten Verfassern“ die erste gelistete Frau. Mich würde interessieren: Wie viele Frauen waren wohl unter diesen „Verfassern“? Ich wage zu behaupten, dass es da einige gegeben haben wird, die zur Unsichtbarkeit verdammt wurden.

24  Wer ist das Genie der Lyrik?

  Nicht nur das Genie der Lyrik: Herta Müller. Das erste Buch, das ich von ihr gelesen habe, war „Atemschaukel“. Selten habe ich jemanden so mit Sprache umgehen sehen. Ich war 15 und völlig ergriffen. Später habe ich ihre Gedicht-Collagen für mich entdeckt und war begeistert. Nicht nur die Collagen an sich, sondern auch ihr Humor, ihr Charme, das Politische dahinter. Seitdem ist mein Motto: „Was immer passiert, Hauptsache kariert.“

25  Welche Werke sind im Werkzeugkasten der Lyrikerin unentbehrlich?

  Sämtliche Gedichte von Mascha Kaléko. Kalékos Name tauchte in meinem Leben mit 13 das erste Mal auf, als mir eine Freundin ihre Lyrik empfahl. Damals reimte ich noch und sie fand, meine Gedichte hätten Ähnlichkeiten. Heute denke ich: Um Himmels Willen! Aber ich weiß, was sie meinte. Mascha Kalékos Gedichte sind nicht nur ein guter Einstieg in die deutschsprachige Lyrik, sie haben auch alles, was ich von guter Lyrik erwarte. Sie wissen schon: humorvoll, politisch, die Suche nach Antworten auf die großen Fragen des Lebens.

26  Worte kommen und gehen, poppen auf und versinken wieder. Ein Lieblingswort von Thomas Mann war ja „kurios“ gewesen. Haben Sie auch so etwas wie ein Lieblingswort?

   Kurios ist ein schönes Wort. Es wird viel zu selten genutzt. Seit ich in Österreich wohne, ist mein neues Lieblingswort „eh“. Das kann man überall dranhängen. Ja eh. Eh klar. Aber die österreichische Sprache hat ganz andere großartige Wörter. „Spital“ zum Beispiel hat alles, was ein gutes Wort braucht. Es ist schön im Klang, aber auch etwas düster und befremdlich. Ich finde, es beschreibt die Natur eines Krankenhauses ganz hervorragend.

27  Wie viele Gedichte können Sie im Schlaf aufsagen?

  Genau eins und besonders lang ist es nicht: „Vogelmädchen“ von Christian Röse. Ich habe es irgendwann in einer Anthologie gelesen und fortan hing es lange Zeit über meinem Schreibtisch. Als ich dann am Leipziger Literaturinstitut zur Aufnahmeprüfung war, bat man mich aus dem Nichts ein Gedicht aufzusagen. Glücklicherweise fielen mir die paar Zeilen ein, die ich täglich bei der Arbeit am Schreibtisch gelesen hatte. Dass ich Rilke’s „Der Panther“ verlernt habe, bedauere ich übrigens immer noch.

28  Nicht nur Eierbecher wollen designt werden. Auch die Umgebung muss mal ein neues Gesicht bekommen. Kam Ihnen der Umzug nach Wien jetzt gerade recht, weil es den Alltag umformt?

  Wien macht es mir leicht. Die Atmosphäre der Stadt, der kulturelle Input, die vielen neuen Möglichkeiten. Nach fünf Jahren in Hildesheim hatte ich mich festgefahren. Ich war depressiv, kam nicht mehr aus dem Bett, ging nicht mehr zur Uni. Da war klar, dass ich einen Neustart brauchte. Sicher verändert der auch meinen Alltag. Ich verbringe wesentlich weniger Zeit im Bett.

 

29  Es gibt It-Girls. Dann gibt’s bestimmt auch It-Städte. Aus der Ferne betrachtet, scheint Wien aber immer Wien zu bleiben, für immer. Was ist Ihr Eindruck von der Stadt?

  Mein Wien-Gefühl lässt sich zur Zeit am besten mit dem Song „Athom“ der österreichischen Musikerin Anja Plaschg aka Soap&Skin beschreiben. Es fängt für mich sehr treffend diese düstere, melancholische Stimmung ein, die Wien für mich hat. Zudem ist das Album erschienen, als ich gerade drei Wochen hier war. Da lief der Song einfach ständig. Und als ich einmal googlete, was „Athom“ bedeutet, übersetzte das Internet es mir fälschlicherweise mit „at home“ — zu Hause. Das fand ich sehr passend.

30  Wo fühlen Sie sich zu Hause?

  Da, wo ich verstanden werde.

31  Sirka, sind Sie glücklich?

  Ja.

 

Sirka,

TOP 5 der Lyrikbände von Frauen und nicht-binären Personen, die ich in diesem Jahr (wieder) gelesen habe

1) Herta Müller: „Die blassen Herren mit den Mokkatassen“

2) Lavinia Greenlaw: „Nachtaufnahmen. Gedichte in zwei Sprachen“ (Übertragen von Gerhard Falkner und Nora Matocza)

3) Ken Folk: „Grief Is a Privilege“

4) Lahraeb Munir: „Concave in a Convex Heart“

5) Martina Hefter: „Es könnte auch schön werden“
   

   

Interview // Uwe Buschmann @kevinuwebuschmann

Webeditor // June Krentz @junekrentz

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